Laura Baumann und David Epp sitzen in der Stube von Josef Pfyl. Zusammen mit dem Gastgeber geniessen sie ein Glas Wein und erinnern sich an den Tag, der sie für immer verbindet – an den 16. Juni 2018. Am Morgen dieses Tages möchte Josef Pfyl in seiner Lieblingsgegend, der Furkaregion, zur Albert-Heim-Hütte aufsteigen. Im Internet erfährt er, dass diese umgebaut wird, und entscheidet sich darum für die auf 2’708 m ü. M. gelegene Sidelenhütte. «Ich freute mich auf einen schönen Tag in der imposanten Natur der Furka und auf ein wenig Zeit für mich selbst», erzählt der 62-jährige Archi tekt. Vom Parkplatz des ehemaligen Hotels Furkablick steigt er Kuppe um Kuppe auf. Bald spürt er, dass er nicht so fit ist wie sonst. Etwa auf halbem Weg zur Hütte ermüdet Josef Pfyl zunehmend. Ein junges Pärchen kreuzt seinen Weg, grüsst ihn. «Ich hatte sie noch einige Zeit im Blick», erinnert sich Josef Pfyl. Er geht langsam weiter, setzt sich immer wieder hin, trinkt schluckweise Wasser und isst sein Sandwich.
Am Mittag kommt das junge Paar in der Sidelenhütte an. Beim Zmittag erinnern sie sich an den Wanderer. «Hätte er nicht schon lange ankommen sollen?», fragt Laura Baumann ihren Freund David Epp. Kurz nach dem Essen brechen die beiden auf. Einige hundert Meter weiter unten kämpft Josef Pfyl mit dem Abstieg. «Weil ich mich plötzlich ganz schwach fühlte, bin ich langsam abgestiegen.» Sein Handy klingelt. Am Telefon ist eine Freundin. Er erzählt ihr, dass es ihm nicht gut geht. Sie beschliesst, die Rega anzurufen. In der Einsatzzentrale beim Flughafen Zürich nimmt Einsatzleiterin Gaby Wild den Anruf entgegen. Sie möchte sich selbst ein Bild über den gesundheitlichen Zustand von Josef Pfyl machen und fragt die Freundin nach dessen Nummer. Josef Pfyl nimmt das Telefon nicht ab. «Ich hatte kein gutes Gefühl und habe deshalb kurz darauf nochmals angerufen», erinnert sich Gaby Wild.
Genaue Koordinaten dank Rega-App
Auf dem Rückweg treffen Laura Baumann und David Epp auf den erschöpften Wanderer. «Er sagte mir, es gehe ihm nicht gut, aber die Rega sei informiert», erinnert sich David Epp. Das Paar entscheidet sich, bei Josef Pfyl zu bleiben und mit ihm auf die Rega zu warten. «Ich weiss noch, dass mir David Coca-Cola zu trinken gab, dass mein Handy klingelte und ich es Laura überreichte», erzählt Josef Pfyl. Am Telefon ist Gaby Wild von der Rega- Einsatzzentrale. Sie erkundigt sich nach dem Befinden von Herrn Pfyl. Laura Baumann äussert Bedenken, ob dieser den Abstieg schafft. Gaby Wild entscheidet, den Rega-Helikopter der Basis Erstfeld aufzubieten. Sie bittet Laura Baumann zudem via Rega-App eine Alarmierung auszulösen. Dadurch werden die genauen Koordinaten an die Rega-Einsatzzentrale übermittelt und im Einsatzleitsystem sichtbar. Kurz nach dem Auflegen des Telefons verschlechtert sich der Zustand von Josef Pfyl rapide. Laura Baumann ruft abermals die Rega an. Dem Wanderer gehe es sehr schlecht, er atme nicht mehr. Weil Laura Baumann emotional zu aufgewühlt ist, bittet die Einsatzleiterin David ans Telefon und fragt ihn, ob er sich eine Reanimation zutraue. «Wir werden während unserer Ausbildung medizinisch geschult und lernen zum Beispiel, wie wir eine Reanimation anleiten und auch, wie wir mit den Alarmierenden sprechen. Es ist wichtig, selbst Ruhe zu bewahren», sagt Gaby Wild. Sie instruiert David, das Telefon auf Lautsprecher zu stellen und an Laura zurückzugeben. Dann dreht der junge Mann Josef Pfyl auf den Rücken und beginnt mit der Wieder belebung mittels Herzdruckmassage. Via Lautsprecher gibt die Einsatzleiterin ihm den Rhythmus vor, zählt mit und beruhigt gleichzeitig Laura. «Wir waren beide erleichtert, als wir das Geräusch des nahenden Rega-Helikopters hörten», erzählt Laura Baumann.
Sofort mit der Wiederbelebung gestartet
Der Rettungshelikopter der Basis Erstfeld landet auf einem Schneefeld oberhalb der Dreiergruppe. Der Notarzt und der Rettungssanitäter gehen zu Josef Pfyl und setzen die Wieder belebungsmassnahmen fort. «Ich erinnere mich an nichts mehr, aber den Stromstoss habe ich gespürt. Es war, als ob mein Körper vom Blitz getroffen würde», erzählt Josef Pfyl. Die Rega-Crew stabilisiert den Patienten, transportiert ihn auf der Trage zum Helikopter und fliegt ihn ins Kantonsspital Luzern. Nach dem Abflug des Helikopters telefoniert Gaby Wild nochmals mit David und Laura. Sie bedankt sich für ihre Hilfe, fragt nach ihrem Befinden und offeriert Unterstützung durch den Sozial- und Betreuungsdienst der Rega. Das junge Paar lehnt ab. «Wir haben gar nicht richtig begriffen, was passiert ist», sagt David Epp. «Abends haben wir uns mit Freunden getroffen und konnten mit ihnen darüber reden. Das tat gut, mehr Unterstützung benötigten wir nicht.»
Ein zweites Leben geschenkt
Seit September 2018 arbeitet Josef Pfyl wieder. Er ist vollkommen gesund, hat weder kognitive noch körperliche Einschränkungen. «Ich bin ein Glückspilz. Die Ärzte haben mir erklärt, dass eine Reanimation nicht immer so gut aus gehe und dass es an ein Wunder grenze, dass ich völlig beschwerdefrei bin.» Zwei Monate nach seinem Herzstillstand hat Josef Pfyl Kontakt zu seinen Rettern aufgenommen: «Dass ich heute noch am Leben bin, verdanke ich ihrer Zivilcourage, sehr vielen Zufällen und einer perfekt organisierten Rettungskette.» Inzwischen sind die drei befreundet. Laura Baumann sagt: «Es ist schön, durch dieses Ereignis einen neuen Menschen in meinem Leben zu haben.» Und David Epp ergänzt: «Nie hätte ich den Anspruch gehabt, dass sich Josef bei uns bedankt. Ich habe getan, was man in einer solchen Situation tut, nämlich helfen.» Für Josef Pfyl ist sein Über leben wirklich ein Wunder: «Es ist für mich nicht immer einfach zu akzeptieren, dass ich das Glück hatte, zu überleben. Ich frage mich öfter, ob es Zufall oder Vorsehung war, dass ich genau im richtigen Moment auf zwei mutige Menschen getroffen bin, die mir geholfen haben und mir so einen zweiten Geburtstag schenkten.»
Karin Zahner