Die Wolken im Urner Reusstal hängen tief an diesem Sonntagmorgen im Februar. Die steilen Wände links und rechts des Talbodens verschwinden schon nach knapp 200 Höhenmetern im dichten Nebel. Vom strahlend blauen Himmel, der sich über der dicken Nebelschicht befindet und einen herrlichen Wintertag ankündigt, dringt nicht ein einziger Sonnenstrahl bis zur Rega-Basis Erstfeld auf 402 Metern über Meer. Der Fernseher im Aufenthaltsraum der Basis zeigt die wechselnden Panorama-Bilder der Wetterkameras in den Wintersportorten. Überall dasselbe: perfekte Wintersportbedingungen über einem fast grenzenlosen Nebelmeer. Noch sind die Pisten leer. Auf der Basis von Rega 8 – so das Funkrufzeichen der Urner Crew – herrscht bereits emsiges Treiben. Direkt nach dem gemeinsamen Briefing mit seinen Kollegen hat Pilot Stefan Bucheli den «Daily Check» absolviert und dabei den Rettungshelikopter der täglichen Überprüfung unterzogen. Derweil haben Rettungssanitäter Gery Bissig und Notärztin Marion Städler die medizinische Ausrüstung kontrolliert – Rega 8 ist einsatzbereit.
Oben blau, unten grau
Die heutige Hochnebellage ist eine Herausforderung für die Crew. Die Wintersportler befinden sich oberhalb der Nebeldecke, die Spitäler darunter. «Helikopter operieren normalerweise unter Sichtflugbedingungen, und das Durchfliegen einer geschlossenen Hochnebeldecke ist aus Sicherheitsgründen verboten – auch bei Rettungseinsätzen», erklärt Bucheli. «Dank dem sogenannten Instrumentenflugverfahren können wir aber auf einer vordefinierten Flugroute eine Wolkendecke durchstossen und beispielsweise so den Militärflugplatz Emmen auch bei schlechtester Sicht anfliegen.» Ausserhalb der Betriebszeiten des Flugplatzes Emmen, beispielsweise am Wochenende, sind allerdings nur Anflüge im Instrumentenflugverfahren (IFR) und keine Starts erlaubt. Die IFR-Route ist deshalb einzig für den Transport ins Spital eine Option. Um heute einen Patienten oberhalb des Nebels versorgen zu können, muss die Crew eine Lücke im Nebel finden, die einen Aufstieg im Sichtflug erlaubt. Am Computer prüft Bucheli akribisch die Daten der Rega-Wetterstationen sowie die Live-Bilder von Webcams der unterschiedlichen Standorte. So verschafft er sich einen Überlick über die aktuelle Wetterlage und sieht, wie weit sich das Nebelmeer ausdehnt. Unterbrochen wird er vom Funkgerät auf seinem Tisch, die Einsatzzentrale meldet sich: «Primäreinsatz am Titlis, Schulterverletzung». Der Unfallort befindet sich über dem Nebel. Keine drei Minuten später ist Rega 8 gestartet und unterhalb des Nebels über dem Urnersee in Richtung Zugerland unterwegs. Das Ziel: ein Loch in der Nebeldecke finden. Auf der Webcam war eines in Richtung Albis auszumachen.
An der Rettungswinde aus dem Steilhang
Einige Minuten später findet die Crew die Lücke im Nebel und Rega 8 steigt über die Wolken an die Sonne. Gleissendes Licht erfüllt das Cockpit, das beeindruckende Nebelmeer erstreckt sich über die ganze Alpennordseite. Wie Inseln ragen die Gipfel der Innerschweiz aus dem Nebel. Die Crew überprüft nochmals die Koordinaten, welche der Rega-Einsatzleiter direkt auf den Tabletcomputer im Cockpit gesendet hat und studiert die zusätzlichen Informationen: Ein Variantenskifahrer ist abseits der Piste gestürzt und hat sich an der Schulter verletzt. Vor Ort wird Rega-Ärztin Marion Städler an der Rettungswinde zum Patienten heruntergelassen. Während der medizinischen Versorgung durch die Ärztin halten sich Pilot Bucheli und Rettungssanitäter Bissig an einem Zwischenlandeplatz bereit und besprechen den weiteren Verlauf des Einsatzes.
Auf Instrumentenflugroute durch den Nebel
Ihr Plan: Um den Patienten ins Kantonsspital Nidwalden unterhalb des Nebels zu fliegen, wollen sie den Instrumentenanflug des Militärflugplatzes Emmen nutzen. «Noch vor einigen Monaten wäre das an einem Sonntag nicht erlaubt gewesen. Aber dank einer speziellen Bewilligung des Bundesamtes für Zivilluftfahrt BAZL darf die Rega nun den IFR-Anflug auch am Wochenende und in der Nacht nutzen», erklärt Bucheli. Über Funk meldet Rega-Ärztin Städler, dass sie den Patienten versorgt und für den Transport an der Rettungswinde vorbereitet hat. Pilot Bucheli startet die Triebwerke und Rettungssanitäter Gery Bissig macht sich an der offenen Tür für die Rettung mit der Winde bereit. Kurze Zeit später hängen Notärztin Städler und der Verunfallte am 90 Meter langen Stahlseil unterhalb des Helikopters. Am Zwischenlandeplatz wird der Patient in den Helikopter umgelagert und die Crew startet Richtung Emmen. Über der Innerschweiz klinkt sich Bucheli in die Instrumentenflugroute ein. Ab jetzt fliegt der Helikopter dank hochpräzisem Autopiloten selbstständig auf der Route – Bucheli und Bissig überwachen die Einhaltung der Parameter. Langsam taucht der Helikopter in das Nebelmeer ein, im Helikopter wird es dunkel. Eingehüllt vom dicken Grau blickt man keinen Meter weit. Nach einiger Zeit lichtet sich der Nebel und kurz darauf ist die Landepiste des Militärflugplatzes Emmen zu sehen. Unterhalb des Nebels fliegt Rega 8 im Sichtflug zum Kantonsspital Nidwalden nach Stans. Nach der Übergabe des Patienten meldet sich die Einsatzzentrale aus Zürich per Funk mit einem nächsten Einsatz: Eine Skifahrerin ist im Skigebiet Airolo schwer gestürzt und hat sich dabei vermutlich das Sprunggelenk gebrochen. Auch für den zweiten Einsatz findet die Crew ein Loch in der Nebeldecke, steigt auf eine Flughöhe von 3’000 Metern und fliegt über den Gotthardpass in Richtung Airolo. Nach der medizinischen Versorgung am Unfallort soll die junge Patientin zur weiteren Versorgung ins Luzerner Kantonsspital geflogen werden. Rega 8 nutzt bereits zum zweiten Mal an diesem Tag den Instrumentenanflug von Emmen, um auf direktem und sicherem Weg unter die Nebeldecke zu kommen. «Früher mussten wir bei einer solchen Wetterlage wie heute auch Einsätze absagen oder die Patienten der Ambulanz übergeben, wenn wir das Spital nur mit grossem Umweg erreicht hätten», sagt Bucheli. «Die IFR-Verfahren bieten uns neue Möglichkeiten, von welchen unsere Patienten ganz direkt profitieren», so Bucheli.
Rasche Übernahme auf der Piste
Kaum hat die Crew die Patientin den Ärzten im Luzerner Kantonsspital übergeben, folgt schon der dritte Einsatz an diesem Tag: Eine Frau mittleren Alters im Gebiet Melchsee-Frutt klagt über starke Kopfschmerzen, Schwindel und Kreislaufprobleme. Mittlerweile ist es später Nachmittag. Rega 8 fliegt einen Kreis über dem Einsatzort. Aus der Luft ist die Pistenpatrouille, welche die Patientin auf einen Rettungsschlitten gelagert hat, gut zu erkennen. Aber die Nebelfetzen, die langsam über die Pisten ziehen, sind eine Herausforderung. Bleibt die Crew für die medizinische Versorgung zu lange am Boden, könnte sich der Helikopter plötzlich im Nebel befinden und ein Start wäre nicht mehr möglich. «Gerade in den Bergen ändert das Wetter manchmal extrem schnell. Deshalb müssen wir die Wetterlage immer ganz genau im Auge behalten und abschätzen, wie viel Zeit für die medizinische Versorgung vor Ort bleibt», erklärt Bucheli. Um kein Risiko einzugehen, lässt er nach der Landung die Triebwerke laufen und die Patientin wird möglichst rasch eingeladen. Nach knapp drei Minuten startet Rega 8 in Richtung Luzern – gerade rechtzeitig, um nicht vom Nebel verschluckt zu werden. Wieder befindet sich die Crew auf der IFR-Route nach Emmen. In der Kabine versorgt Ärztin Städler die Patientin. Sie vermutet, dass es sich nicht um einen Schwächeanfall, sondern um eine Hirnblutung handelt. In diesem Fall gilt «Time is brain» – also «Zeit ist Gehirn»: «Je schneller ein Patient behandelt werden kann, desto weniger bleibende Schäden treten auf», erklärt sie. Später wird sich zeigen: Die professionelle Reaktion aller Beteiligten und der rasche Transport ins Spital ermöglichten eine sofortige Behandlung – und grössere Beeinträchtigungen blieben aus.
Patienten profitieren
Zurück auf der Basis lässt die Crew den Tag Revue passieren. «Die Rega-Vision einer wetterunabhängigen Luftrettung konnte teilweise bereits realisiert werden», sagt Bucheli mit Blick auf die drei Instrumentenanflüge durch den Nebel an diesem Tag. Und ergänzt: «Es ist toll zu sehen, dass sich die Bemühungen der Rega unmittelbar für unsere Patienten auszahlen. Allein heute haben drei Menschen davon profitiert.»
Adrian Schindler