Am Freitag, 21. Juni, um 20 Uhr geht auf der Einsatzbasis Locarno ein Alarm ein: Hochwasser in Sorte, einem Ortsteil von Lostallo (GR) im Misox. Mehrere Menschen müssen dringend evakuiert werden, denn eine immense Schlamm- und Gerölllawine hat einige Häuser im Dorfkern erfasst und ein Ferienhaus mitgerissen. Der Bach Molera war über die Ufer getreten und hatte diesen grossen Rutsch ausgelöst.
Entfesselte Natur
Bei den heftigen Unwettern in der italienischen Schweiz standen verschiedene Rega-Crews im Einsatz, um die Bevölkerung zu evakuieren oder Vermisste zu suchen. Sowohl im Misox wie auch im Val Lavizzara und im Val Bavona trafen die Rega-Crews als Erste ein und konnten so mithelfen, einen Überblick über die Lage zu gewinnen.
Mit der Rettungswinde evakuiert
Als die Crew von Rega 6 mitsamt einem Rettungsspezialisten Helikopter an Bord am Ort des Unglücks eintrifft, findet sie eine surreale Landschaft vor: Zwischen riesigen Steinhaufen, Felsbrocken, Baumstämmen und Schlamm sind vereinzelt Häuser und Autos zu erkennen. Auf dem Balkon eines Hauses, das von Geröll umgeben ist, winken sechs Personen dem Rettungshelikopter zu, um so auf sich aufmerksam zu machen.
Die Rega-Crew setzt den Rettungsspezialisten Helikopter an der Rettungswinde punktgenau auf dem Balkon ab und fliegt die sechs Personen, allesamt unverletzt, aus. Die Hilfe der Rega wird aber noch weiter benötigt. Die Crew bespricht deshalb das weitere Vorgehen mit der Polizei, die in der Zwischenzeit alle Häuser und Wohnungen nach allfälligen Verletzten oder Verschütteten durchsucht hat. Die Rega-Crew fliegt zur Basis, um den Helikopter aufzutanken. Zurück in Lostallo evakuiert sie weitere Personen, die wegen des Hochwassers von der Zivilisation abgeschnitten sind. In etwas mehr als zwei Stunden fliegt die Rega 22 Menschen aus: sechs in Sorte und 16 in drei anderen Gemeindegebieten von Lostallo. Sie werden von Rettungssanitäterinnen und -sanitätern des Bündner und des Tessiner Rettungsdienstes in einem ambulanten medizinischen Aussenposten betreut. Trotz grossräumiger Suche bleiben vier Personen vermisst.
Frau aus Trümmern befreit und gerettet
In Sorte suchen inzwischen auch die bodengebundenen Rettungskräfte, Suchhunde mit ihren Führern sowie ein Super Puma der Luftwaffe gemeinsam nach weiteren Vermissten. Am Samstagmorgen kurz nach 5 Uhr geht via Rega-App ein Hilferuf bei der Rega-Einsatzzentrale am Flughafen Zürich ein. Die Einsatzleiterin bietet umgehend die Bergretter des Schweizer Alpen-Club SAC auf. Eine ältere Frau liegt unter den Trümmern eines Hauses und kann gegen 6 Uhr morgens gerettet werden.
Die Sucharbeiten werden mithilfe der Armee fortgeführt, die mit Wärmebildkameras und GPS-gesteuerten Ortungsgeräten ausgerüstet 4 Rega-Helikopter standen im Tessin gleichzeitig im Einsatz. ist; je länger die Suche indes dauert, desto mehr schwindet die Hoffnung, die drei weiteren vermissten Personen lebend zu finden. Später wird sich herausstellen, dass das Hochwasser in Sorte diese drei Menschen das Leben gekostet hat.
Erneute Unwetter
Nur acht Tage nachdem die Naturgewalten im Misox grosse Verwüstungen angerichtet haben, trifft es das obere Maggiatal und das Val Bavona. Die Bedingungen für die Rettungskräfte sind diesmal noch schwieriger: Die Visletto-Brücke ist eingestürzt und somit die Strassenverbindung nach Cevio und ins obere Maggiatal unterbrochen. Am Sonntagmorgen um 2.15 Uhr geht auf der Einsatzzentrale der Rega ein Alarm ein: In Fontana, auf dem Gemeindegebiet von Cevio, habe ein Erdrutsch einen Toten gefordert, eine Person sei verletzt, und eine weitere werde vermisst. Da das Fest- wie auch das Mobilnetz kurz nach der Alarmierung ausgefallen sind, kann die alarmierende Person nicht mehr erreicht werden. Die Helikoptercrew bereitet sich auf den Nachteinsatz vor, doch die heftigen Gewitter lassen einen Start nicht zu.
Luftaufnahmen machen das Ausmass der Katastrophe sichtbar
Gegen 3 Uhr morgens nehmen die starken Niederschläge etwas ab, und die Crew kann abheben. Mit an Bord ist wiederum ein Rettungsspezialist Helikopter. In Cevio fordert die Crew bei der Rega-Einsatzzentrale einen zweiten Rettungshelikopter an und beginnt sofort, Personen mit der Rettungswinde zu evakuieren. Kurz darauf trifft die Rega-Crew der Basis Samedan zur Unterstützung ein. Es folgen viele Notrufe aus verschiedenen Dörfern im Val Lavizzara und im Val Bavona. Dank der Fotos und Videos, die die beiden Rega- Crews, die als Erste vor Ort waren, aufnehmen konnten, gewinnt man einen Überblick über die Situation.
Der regionale Krisenstab unter Führung der Kantonspolizei Tessin wird aktiviert. Er koordiniert die Einsätze der verschiedenen Rettungsorganisationen. Frühmorgens wird das ganze Ausmass der Verwüstungen sichtbar: «In 25 Jahren Berufstätigkeit habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen», sagt der Rega-Rettungssanitäter Boris Bottinelli, der schon in Sorte im Einsatz stand. Und sein Kollege, Giorgio De Ambroggi, ergänzt: «In den Gesichtern der in der Nacht evakuierten Menschen waren Angst und grosse Verzweiflung zu sehen.»
Evakuierungen und Suchflüge im grossen Umfang
Allein in Piano di Peccia warten etwa 300 Personen darauf, in Sicherheit gebracht zu werden.Am Tag darauf helfen private Helikopterunternehmen sowie die Armee bei den Evakuierungen mit. Die beiden Rega- Helikopter suchen in den Flüssen und in der zerstörten Umgebung nach Vermissten. Gegen 11 Uhr unterstützt auch Rega 18 die Sucheinsätze. Dank des Low Flight Network (LFN) konnte die Crew aus Sion trotz des schlechten Wetters ins Tessin fliegen. Rega 18 hat drei Polizisten an Bord, die mit Satellitentelefonen ausgerüstet sind, um im Katastrophengebiet von drei strategischen Punkten aus – Piano di Peccia, Fusio und San Carlo – im Bedarfsfall Alarm auslösen zu können.
Auf Anfrage der Polizei bietet die Rega auch ihren Suchhelikopter auf. Dieser ist in Wilderswil stationiert und mit einem Hightech-Suchsystem mit Wärmebildkamera und zahlreichen Sensoren ausgerüstet. Damit können die Rega-Crews sowohl bei Tag als auch in der Nacht grossflächige Gebiete aus der Luft nach Vermissten absuchen. Auch dieser Helikopter folgt den definierten LFN-Routen.
Nach mehreren Tagen intensiver Sucharbeiten und einem ausserordentlichen Einsatz aller Beteiligten – verschiedene Rettungsdienste, darunter die Armee, die Bergretter des Schweizer Alpen- Club SAC und der Zivilschutz, sowie unzählige Freiwillige – muss akzeptiert werden, dass sieben Menschen ihr Leben verloren haben und zwei Personen nicht gefunden werden konnten. Dieses gewaltige Naturereignis hat Mensch und Landschaft tiefe Verletzungen zugefügt.